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Sara Appelhagen ist Abteilungsleiterin für Jugend- und Frauenförderung beim Magistrat Bremerhaven. 2022 war sie an der Entwicklung eines Praxisleitfadens für geschlechtersensible Kinder- und Jugendarbeit beteiligt. „Die Pluralisierung unserer Gesellschaft stellt junge Menschen vor eine große und besondere Herausforderung“, so die Abteilungsleiterin. Gendersensible Jugendarbeit will Geschlechterstereotype und häufig veraltete Rollenmuster aufbrechen und junge Menschen in ihrer Entwicklung bestmöglich fördern. Wir haben uns mit Frau Appelhagen unterhalten, wie es um die Geschlechtergerechtigkeit in Bremerhaven bestellt ist.

Frau Appelhagen, welche Frauen und Mädchen sind heute immer noch benachteiligt?

Leider werden weltweit politisch wieder deutliche Rückschritte in der Geschlechtergerechtigkeit gemacht. Das ist furchtbar und sehr erschreckend. Es werden wieder Rollenbilder propagiert, die Mädchen und Frauen stark reduzieren – zum Beispiel auf Reproduktion und Familie – und die Rechte von Frauen auf ihren eigenen Körper und in Bezug auf Abtreibungen werden wieder in Frage gestellt. Auch die Gewalt gegen Frauen nimmt zu. Das ist nicht nur extrem rückschrittig, sondern auch demokratiegefährdend.

It’s a man’s world

Frauen bekommen immer noch deutlich weniger Lohn und leisten mehr unbezahlte Arbeit im Haushalt, bei der Pflege von Angehörigen und bei der Kinderbetreuung (Care-Arbeit). Auch deshalb sind sie stärker von Armut bedroht, vor allem im Alter.

Mit welchen Themen haben Jungen heutzutage zu kämpfen?

Eine gute und fundierte Jungenarbeit ist von erheblicher Wichtigkeit. Denn auch Männer und Jungen erleben Gewalt, holen sich jedoch seltener Hilfe. Sie haben ebenfalls mit rückschrittigen Rollenzuschreibungen zu tun: der Mann als „Versorger“ oder der Junge, der keine „Schwäche“ zeigen darf. Das hindert sie in ihrer freien und individuellen Entwicklung und nimmt viele Chancen. Die gendersensible Arbeit soll auf vielfältige Art und Weise dazu anregen und helfen, sich mit sich selbst als Person, mit der eigenen Geschlechtsidentität und mit Männlichkeit als traditionell dominierender Geschlechterrolle auseinanderzusetzen.

Wie queer-freundlich ist eigentlich Bremerhaven?

Trans-Menschen erleben täglich, sowohl auf der Straße als auch in Behörden diskriminierende Erfahrungen, ganz altersunabhängig. Das ist ein unerträglicher Zustand. Insgesamt ist in Bremerhaven aber in den vergangenen Jahren in der queeren Szene einiges passiert. Es gibt sehr viele hochengagierte Menschen, die Gruppen oder Projekte organisieren, zum Beispiel das Queerfilmfestival, den jährlichen Christopher Street Day und die Jugendgruppe Prism. Durch den „Queer Arbeitskreis“ haben wir ein Gremium, das sich mit queeren Themen in der gesamten Stadt auseinandersetzt.

Wo gibt es Nachholbedarf?

Es gibt noch richtig viel zu tun. Das Wichtigste ist Aufklärung. Fachkräfte müssen geschult werden, sie müssen wissen: Was bedeutet queer sein? Was bedeutet LGBTIQ+? Und was bedeutet das für meine (pädagogische) Arbeit? Dann müssen sich aber auch Behörden stärker mit dem Thema auseinandersetzen, um möglichst diskriminierende Erfahrungen abzuschaffen und Strukturen nachhaltig zu ändern.

An welchen Maßnahmen wird konkret in Bremerhaven gearbeitet, damit sich die Situation für alle Geschlechter verbessert?

In Bremerhaven soll eine queere Bildungsreferentenstelle (m/w/d) eingerichtet werden, die sich vieler der oben genannten Themen annehmen wird. Dann wird die Frauen- und Mädchenförderung stetig gefördert, weiterentwickelt und qualitativ verbessert. Zum Beispiel durch eine sehr gute Netzwerkarbeit, durch Fortbildungen und Schulungen und zielgerichtete Hilfsangebote. Auch die Jungenarbeit muss sich stetig weiterentwickeln. Hier würde ich mir für Bremerhaven noch mehr Angebote wünschen.

Meinen Sie, dass Toleranz lernbar ist?

Viele Verhaltensweisen sind erlernbar und leben von Vorbildern. Ich möchte, dass wir in einer vielfältigen, diversen, solidarischen und empathischen Gesellschaft leben können und damit geht unser Verhalten uns alle an.

One Billion Rising 2025: #RiseForEmpathy

Jedes Jahr im Februar findet der weltweite Aktionstag „One Billion Rising“ statt, um gemeinsam eine Welt ohne Gewalt gegen Frauen zu schaffen.

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